Frühe Exponentin transkultureller Autofiktion: Emine Sevgi Özdamar

Wie kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten einen unüberhörbar „anderen” Zungenschlag in die deutschsprachige Literatur einbringen, zeigt das grenzüberschreitende Oeuvre von Emine Sevgi Özdamar. Für ihr gewitztes Schreiben erhält die deutsch-türkische Autorin am 5. November in Darmstadt den Büchner-Preis 2022.

„Die deutschsprachige Literatur der Zugewanderten“ , betont Manfred Durzak in der 2006 erschienenen zweiten Auflage der renommierten Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, wird „inzwischen als selbständige Stimme mit eigener ästhetischer Prägung wahrgenommen, die den Chor der Gegenwartsautoren um eine wesentliche neue Nuance des Ausdrucks bereichert“[1] (die erste Auflage von 1994 verlor darüber kein einziges Wort).

Durch Autor:innen türkischer, persischer, irakischer oder afghanischer Herkunft[2], die einiges aus ihrer Mutterzunge (so der Titel des 1990 erschienenen ersten Erzählbands von Sevgi Emine Özdamar) in ihre Schreibsprache Deutsch herüberretteten, ist die deutschsprachige Literatur in der Tat „vielstimmiger geworden, auch dissonanter“. Dass die 1946 in Malatya in Ostanatolien geborene deutsch-türkische Autorin, deren Schreiben früh schon „eine dezidierte Absage an die Perspektive der ‘Gastarbeiterliteratur’”[3] markierte, jetzt den renommiertesten Literaturpreis im deutschen Sprachraum erhält, zeigt wie divers die deutsch(sprachig)e Literatur geworden ist.

Zwischen Koran und Comics, Atatürk und Humphrey Bogart, Kopftuch und Kaugummi

Eine postmigrantische Schreibposition lässt bereits der Titel ihres autobiographisch gefärbten Debütromans Das Leben ist eine Kawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus (1992) erkennen. Dafür erhielt Özdamar 1991 als erste Autorin nichtdeutscher Muttersprache den prestigeträchtigen Ingeborg-Bachmann-Preis. Durch die erste Tür reist die namenlos bleibende Ich-Erzählerin im Bauch ihrer hochschwangeren Mutter, die zur Niederkunft in ihr Elternhaus nach Malatya zurückkehrt: damit kommt sie ins Leben hinein. Durch die zweite Tür reist die 17-Jährige am Ende mit dem Zug ins fremde Deutschland aus, wo sie zwei Jahre bei Telefunken in der Fabrik arbeiten wird, um sich ihr Schauspielstudium in Istanbul zu finanzieren.

Dazwischen erzählt Özdamar eine surreal verfremdete Migrationsgeschichte innerhalb der Türkei, durch die ständigen Ortswechsel der Familie erschließt ihr Karawanserei-Roman die Türkei der 1950er und 1960er Jahre als einen Raum vielfältiger religiös-kultureller Differenzen: In Istanbul wächst das Mädchen zwischen den arabischen Gebeten und tradierten Ritualen der Großmutter sowie den Comics, Krimis und Kinofilmen ihrer amerikanisierten Eltern auf. In der „religiösen Strasse“ der Kleinstadt Yenisehir macht sie Bekanntschaft mit Kopftüchern, Koranschule, Ritualgebeten und einem Derwisch, im kemalistischen Bürokratenviertel der Lehrer, Anwälte und Militärs mit den Atatürk-Paraden. In der „seelenlosen Gasse“ der Großstadt Bursa wohnen Zuckerfabrikanten, Bus- und Seidenstoffgeschäftsbesitzer, im Unterschied zu den verschleierten religiösen Frauen treten die „verrückten” Frauen in Bursa selbstbewusst und freizügig auf.

Im dortigen Theater entdeckt die Erzählerin ihre Liebe zur Schauspielerei, die durch europäische Romane und Theaterstücke Auftrieb erhält. Der Militärputsch 1960 verschlägt die Familie nach Ankara; mit der Rückkehr ins moderne Istanbul bahnt sich der Aufbruch ins geteilte Berlin an – dorthin rettet sich Özdamar nach dem Rechtsputsch 1971 sowie ihrer Verhaftung in der Türkei und erklärt die linksintellektuelle Community in der Türkei und in der Bundesrepublik zu ihrer Gemeinschaft, davon handeln die Folgeromane Die Brücke vom goldenen Horn (1998) sowie Seltsame Sterne starren zur Erde (2004), 2006 sind sie als Istanbul-Berlin-Trilogie Sonne auf halbem Weg neu erschienen.

Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne bricht sich gleich zu Anfang des Karawanserei-Romans Bahn, wenn die Enkelin die Worte ihrer Großmutter auf dem Friedhof nicht versteht: es handelt sich um die erste Sure, al-Fatiha, des Koran, die sie auf Arabisch rezitiert, im Buch lesen wir die latinisierte Version. Ihr Vater, der in der türkischen Republik aufwuchs, schlägt öfters den Koran auf, kann ihn aber nicht lesen – durch Atatürks Europäisierung von Schrift und Sprache erfuhr die islamisch-osmanische Tradition einen radikalen Bruch. Während die breite Bevölkerung auf dem Land noch muslimische Riten und Sitten sowie volksreligiöser Kismet- und Aberglaube bestimmen, erschien der siebenjährigen Protagonistin Ostanatolien bei ihrem ersten Besuch wie „ein anderer Planet“[4].

Wie für ihre Mutter Fatma und ihren Vater Mustafa ist für sie die Türkei nicht mehr „das Land analphabetischer, religiöser Traditionen verhafteter Bauern, sondern eine sich aus diesen Traditionen lösende, den Anschluss an Westeuropa suchende Gesellschaft, in der es selbstverständlich wird, in der Schule Englisch und Französisch zu lernen, Frank Sinatra zu hören, Madame Bovary und Mike Hammer-Krimis zu lesen und, wie überall in Europa in den fünfziger Jahren, kinosüchtig Hollywood-Stars wie ‚Erol Flayn‘ und ‚Humphrey Pockart‘ zu bewundern. Es ist zugleich ein Land, dessen Mittelschichten, denen die Erzählerin sozial zuzuordnen ist, verelenden und das von militanten politischen Auseinandersetzungen gezeichnet ist.“[5] Zu den Spannungen zwischen West- und Osttürkei, Stadt und Land gesellen sich der ethnische Konflikt zwischen Türken und Kurden sowie der religiös-politische Gegensatz zwischen proislamischen Demokraten und laizistischen Republikanern.

Neue Weltliteratur auf Deutsch

Özdamars Prosa spricht nicht nur von Migration, vielmehr trägt das Code-switching zwischen Türkisch, Arabisch und Deutsch das Fremde und Andere, von dem erzählt wird, bewusst in die Sprache des Erzählens hinein. Der Koran, die arabische Schrift und die türkische Sprache fließen – teils erklärt, teils unerklärt – in den deutschen Text ein und verwischen nationale, sprachliche und kulturelle Identitätszuschreibungen. Durch unkonventionelle Verdeutschungen türkischer Redewendungen und wortwörtliche Übersetzungen aus dem Arabischen ergeben sich absichtsvoll verrutschte Bilder, irritierend „verdrehte Zungen“.

Bewusst wird durch diese dreigespaltene Zunge die Erwartung vereinheitlichender Assimilation unterlaufen, die lediglich auf die Negation von Differenz zielt. Bis hin zu den litaneihaft wiederholten, immer länger werdenden „Bismillahirahmanirrahim“-Gebetsanrufungen räumt Özdamar auf komisch-karnevaleske Weise mit kulturkontrastiven Oppositionen auf, die zwischen Deutschland und der Türkei umlaufen – ein Plädoyer für eine „humorvoll befreite Haltung gegenüber kulturellen Vermischungsprozessen“[6]. Özdamars Ästhetik, die sich zwischen Surrealismus, absurdem Theater und Groteske bewegt und weltweit übersetzt wurde, dekonstruiert „die Vorstellung einer starren Heimat und Kultur“ und setzt „an ihre Stelle eine Hybridität, die nicht einfach für eine Vermischung der Kulturen steht“[7]. Gerade die Fiktion als Kraft der (Neu-) Erfindung wie der Übersteigerung des realen Erlebens macht Özdamars Prosa zu einem Musterbeispiel transkultureller Autofiktion[8].

„Du wirst sechs Putzfrauenrollen spielen und viele Bücher schreiben und wirst am Ende geschlachtet […]”[9]: Verbürgt ist Özdamars Auftritt als Putzfrau in einem Stück von Thomas Brasch, womit sie das Klischee, in Deutschland könne eine türkische Frau am Theater nur als Putzfrau Karriere machen, subversiv konterkariert. In ihrem jüngsten Roman Ein von Schatten begrenzter Raum (2021) vergegenwärtigt sie ihr Theater- und Künstlerinnenleben an der Seite von Benno Besson, Matthias Langhoff und Claus Peymann. Ihre glücklichste Zeit im Paris der 1970er Jahre mutet gar aus der Retrospektive als freundliche und friedliche Zwischenphase an, in der in Mitteleuropa „die Hölle eine Pause gemacht hätte“: „Zwei Dschihadisten werden in das Gebäude der Karikatur-Zeitschrift Charlie Hebdo eindringen, die Künstler, einen Mitherausgeber, einen Lektor, einen Veranstalter, eine Psychiaterin und einen Personenschützer mit Sturmgewehren töten“, antizipiert sie den islamistischen Terroranschlag dort 37 Jahre später. „In diesen Tagen wird ein türkischer Journalist, der in Istanbul selbst in Angst vor Islamisten lebt, schreiben: ‘IST DIE WELT EINE HÖLLE?’”[10]

Immer wieder melden sich Krähen, die sie warnen, dass der Mensch in der Fremde andauernd daran erinnert wird, dass er fremd ist. „Sie werden dich loben und schreiben, dass du Pionierin der türkischen Künstler bist, dass du Aufklärerin der unterdrückten türkischen Mädchen bist, dass du die einzige emanzipierte Türkin bist, dass du das beste Beispiel der Integration bist”, prophezeien ihr die Krähenstimmen. 2006 kam es zu einem Skandal, als Feridun Zaimoglu vorgeworfen wurde, in seinem Roman Leyla Özdamars Karawanserei-Roman plagiiert zu haben. Man beschwichtigte, es müssten Bilder aus der türkischen Kultur, etwas ethnisch Gemeinsames sein, was die Ähnlichkeit bewirke. Aus ihrer „Verärgerung über das Othering, die Unfähigkeit zur Differenzierung und Anerkennung des Besonderen”[11], lässt Özdamar die Krähen kritisch kommentieren: „Nehmen wir an, du schreibst einen Roman, mit all deiner Fantasie, mit eigenen Bildern, deinen empfindsamen Gefühlen […] Sie werden sagen, schauen Sie, wie schön die türkische Sprache ist. Keiner kann Türkisch, aber plötzlich wissen sie, dass es Türkisch ist. Du landest in der türkischen Schublade.”[12]


[1] Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 22006, 998, das folgende Zitat 1007.

[2] Dazu eingehend Christoph Gellner: „Allah ist kein Ausländer“. Zur Präsenz des Islam in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 46, H. 2, Bern 2015, 25–46; ders.: Vom Migrations- zum Religionsstereotyp. Islamdiskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: In der Sprache gefangen. Migration und Diskriminierung, hrsg. v. Wolfgang W. Müller u. Franc Wagner, Zürich 2019, 153–180.

[3] Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn 2006, 214.

[4] Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Köln 72008, 48.

[5] Klaus-Michael Bogdal: Wo geht’s denn hier nach Kanakstan? Deutsch-türkische Schriftsteller auf der Suche nach Identität, in: Monika Schmitz-Emans (Hrsg.): Literatur und Vielsprachigkeit, Heidelberg 2004, 237–247, hier 243.

[6] Deniz Göktürk: Kennzeichen: weiblich / türkisch / deutsch, in: Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann (Hg.): FrauenLiteraturGeschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2003, 516–532, Zitat 532.

[7] Özkan Ezli: Narrative der Migration. Eine andere deutsche Kulturgeschichte, Berlin/Boston 2021, 367.

[8] Ekkehard Knörer: Schattengeboren. Zum Werk von Emine Sevgi Özdamar, in: Merkur H. 871, 2021, 58–68, 63.

[9] Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Roman, Berlin 2021, 84. Eine ihrer ersten Theaterarbeiten gestaltet das Schicksal einer Gastarbeiterin, die in ihrer Heimat als Ophelia auf der Bühne stand und nun nur noch als Putzfrau mit dem Theater in Verbindung steht: Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland, in: Mutterzunge. Erzählungen, Berlin 1993, 102-118.

[10] Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum, 170.

[11] Knörer: Schattengeboren. Zum Werk von Emine Sevgi Özdamar, 60.

[12] Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum, 58f.

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