Tiefenresonanz. Theopoetische Streifzüge durch die Gegenwartsliteratur

Hartmut Rosa spricht von „Resonanz“ und dass Religion das Versprechen vermittelt, dass unser Dasein eine Resonanz- und keine Entfremdungsbeziehung ist. Religiöse Praxis wie z. B. das Beten ist von Haus aus auf die Herstellung einer „Tiefenresonanz“ angelegt. Darum geht es auch der Theopoesie, die hier im Fokus steht: spirituell inspirierende Texte zeitgenössischer Autor:innen, die Christoph Gellner in „Angesehen. Interdisziplinäre Perspektiven auf den Blick Gottes“, der Festschrift zum 60. Geburtstag von Georg Langenhorst, erschließt.

Was nehmen wir wahr, wenn wir unseren Planeten mit dem distanzierten Blick von Astronauten oder Raumsonden aus dem Weltall sehen? Der blaugrüne Erdball mit seiner hauchdünnen Gashülle in den unbelebt-unwirtlichen Weiten des Alls: winzig erscheint der Lebensraum Erde im Sonnensystem am Rand der Milchstraße. Das irritierende Staunen über diese einzige Oase, die den Menschen hervorgebracht hat und ihm als lebensfreundliche Insel inmitten der unendlichen Sternenräume Heimat bietet, verdichtet ein Gedicht des Schweizer Schriftstellers Jürg Amann (1947–2013):

Wenn man nur wüsste, wie
sie gemeint ist, die Welt.
Diese sollende Kugel,
in den Gnadenmantel
aus blauem Himmel gehüllt.
Auf der es die Liebe gibt.

Und wir,
die wir sie einstweilen bewohnen.

Ob wir gemeint sind.
Ob sie gemeint ist, die Welt. [1]

 

Der Text begegnet bereits in Amanns Novelle Die Reise zum Horizont (2010). Einer der todgeweihten Passagiere eines in den Eis- und Schneehöhen der Anden abgestürzten Flugzeugs, die, nachdem die Bordverpflegung aufgebraucht ist, buchstäblich zu Kannibalen werden, schreibt es an der „äussersten Kante des Lebens. Wo die Erde den Menschen nicht braucht“ [2] auf einen Zettel. Ist menschliches Leben womöglich eine zufällige, äußerst unwahrscheinliche Erscheinung im Weltenraum? Amann betont den schützenden „Gnadenmantel aus blauem Himmel gehüllt“, der, schon das ein unglaubliches Wunder, menschliches Leben ermöglichte, ja, dass es auf dieser blauen Marmorkugel „die Liebe gibt“.

 Hartmut Rosa spricht von „Resonanz“ und dass Religion uns vermittelt, dass wir Menschen tatsächlich „gemeint“ sind im unübersehbaren Universum: „Gott ist dann im Grunde die Vorstellung einer antwortenden Welt.“ [3] Hans Blumenberg definiert den Menschen als „das gewollt sein wollende Wesen“ [4], das nicht einfach nur durch den Zufall existieren will. Das ist eines der zentralen Themen seiner Anthropologie: Menschen leiden darunter, dass sie nicht in gleicher Weise ‚Natur‘ sind wie die übrige Natur, dass sie einer Rechtfertigung ihrer Existenz bedürfen. Über die Tatsache, dass wir keinen Grund haben, da zu sein, müssen wir «hinweggetröstet» werden [5].

Der Theologe und Religionsphilosoph Martin Rohner bezeichnet diese vertikale Resonanzsuche im Blick auf die Welt im Ganzen als existentielles Verlangen nach „Tiefenresonanz“ [6]. Auf der Suche nach einer nachkritischen affirmativen Gottesrede macht Georg Langenhorst aufmerksam auf die „Sehnsucht nach einem Gott, der uns sieht“, sie begegne „freilich fast immer nur als in Reflexionen ausgespielter Gedanke, führt kaum zu ausführlichen dichterischen Vertiefungen“ [7]. Ende August 2020 hat die Schriftstellerin Felicitas Hoppe in Bezug auf Gal 2,6 darüber im Zürcher Großmünster eine Kanzelrede gehalten: „Der Mensch ist nun einmal darauf angewiesen, dass man ihn wahrnimmt, dass man ihn sieht. Auf das Ansehen der Person kommt es an.“ [8]

Neu im Fokus: Theopoesie

„Wer gläubig ist, fühlt sich unter Beobachtung gestellt. Man schaut nach oben, weil man sich von dort gesehen glaubt“[9]: Peter Sloterdijk führt in Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie (2020) die mit der „durchdringenden Sehkraft des Himmels“ verbundene „Theoskopie“ als Negativbeispiel für die Indienstnahme der Götter wie der Religionen an. Zugleich sieht Sloterdijk „in ausnahmslos allen bekannten Versionen der religio ein Dichtungsartiges, ursprünglich unmittelbar poetisches Operieren der Anschauungs-, Einbildungs- und Formulierungskräfte am Werk“ [10]. Mit der Freisetzung der Religion von vormals bedeutsamen „Wir-Funktionen“ kulminiere das Unternehmen ‚Theopoetik‘ heute in „unzähligen Varianten einer Poesie der Suche“ [11].

Ja, hinsichtlich der Deutung menschlicher Existenz im Horizont ihrer Zufälligkeit, Endlichkeit und Glücksbedürftigkeit erzeuge dies eine neue Nähe und Verwandtschaft von Religion, Kunst und Philosophie. „Der Mensch ist ein sprechendes Wesen, doch nicht alles, was er sagt und gesagt bekommt, liegt auf derselben Ebene“, stellte Sloterdijk 2007 im ZEIT-Gespräch mit Walter Kasper heraus. „Es gibt gewissermaßen eine Sprache in der Sprache. Die formuliert die Sätze, mit denen man Orientierung über das Dasein zum Ausdruck bringt.“ [12] Pointiert spitzt der Philosoph und Schriftsteller in seinem neuen Großessay zu: «Menschen existieren als anthropoetische Wesen» – der Vorgängerband Nach Gott (2017) bezeichnet sie wegen ihres Sinns für Transzendenz als «die theopoetischen Tiere» [13]. «Seit langem ist ihnen bewusst, dass es etwas an ihnen gibt, das über sie hinausgeht. Blaise Pascal resümiert die Erfahrung des Nach-oben-offen-Seins in dem Satz: ‘Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen.» [14]

„Poesie und Gebet verbindet eine Form des suchenden Sprechens“, betont der Theologe und Dichter Christian Lehnert. „Ich habe sowohl in der Poesie als auch im Gebet für das, was ich sagen will, noch keine Worte. Im Gebet nähere ich mich dem Unsagbaren Gottes; und in der Poesie setze ich mich als Dichter ja nicht hin und schreibe, weil ich irgendetwas anderes, was ich sagen will, kunstvoll in Worte bringen will, sondern weil ich im Schreiben in Bereiche vordringe, die ich vorher noch nicht sagen konnte.“ [15] Luther beschrieb den Menschen als «ein Tier mit Vernunft und einem Herzen, das dichtet, das Bilder findet und ‘fingiert’», zitiert Lehnert in seinem neuesten Prosabuch den sprachsensiblen Reformator. «In dieser dissonanten Formulierung senkt Luther den Menschen ganz ins Tierhafte ein und findet ihn zugleich in einer anderen Sphäre, sieht ihn mit den Engeln, den Boten aus dem Zwischenreich des Möglichen und Verborgenen, flanieren ins noch Ungewordene.»

Die theopoetische Pointe dieser «Lutherischen Einbildungen»? «Der Mensch ist nicht nur ein Lebewesen mit Vernunft […] er ist zugleich nicht ganz in der Gegenwart der Fakten, in den Analysen und im Machbaren zu Hause; seine Fühler streckt er ins Imaginäre, in ein Dichten und Bilden und Schauen des noch nie Gesehenen, des Undenkbaren. Das betrifft bei Luther auch den Kern der religiösen Existenz: ‘Fides creatrix divinitatis’, sagt er, der Glaube ist der Schöpfer der Gottheit. Jeder Glaubende dichtet und bildet sich seinen Gott, seine Gottesvorstellung. Poesie ist dem Glauben zu eigen wie der Atem dem Leben. ‘Gott’, das ist eine riesige Galerie von Bildern, fiktiv und schön, die soviel sichtbar macht, wie sie verbirgt.» [16]

«Das Gebet bringt sein ‘Du’, seinen Gott hervor – als eine Art Wegweiser», verdeutlicht Lehnert im Nachwort zu seiner Anthologie Gebete der Menschheit. «In dem ‘Gott’ eingeschlossen ist der, der ihn zu ‘Gott’ macht, indem er ihn anbetet. ‘Gott ist nicht an sich ‘Gott’, sondern er wird es durch die Betenden. Das heißt nun nicht, daß Beten ein rein selbstreflexiver Vorgang wäre. Der Gang ‘hinüber’ – so bezeugen es zumindest Gläubige – führt nicht in einen Kreis, sondern ist erfaßt von einem Sog, einem Ruf, aber wo es hingeht, weiß der Betende noch nicht zu sagen. Er formt eine Vorstellung davon, den ‘Gott’, eine Wegmarke – und dazu braucht er Sprache und Bilder, Musik und Riten. Übung und Zweifel bilden das Schrittmaß.» [17] Kirchendistanz und spirituelle Rezeptivität bilden in der Gegenwartskultur keinen Widerspruch, wie aktuelle Beispiele religiöser Such-, nicht Fertig- oder gar Besitzsprache zeigen.

Wegmarken ins Offene

Nicht von ungefähr enthält Jürg Amanns nach langer schwerer Krankheit posthum erschienener Lyrikband Lebenslang Vogelzug (2014) neben Liebeslyrik auch eindringliche Gebetsgedichte, die ganz im Zeichen der Gott- und Sprachsuche stehen. Noch vom Autor selbst zusammengestellt, finden sich auf einer Doppelseite zwei Korrespondenzgedichte, die sich gegenseitig ergänzen in ihrer Aussage [18]:

Anrufung

Wir müssen wieder
die Dome bauen, den Gott
wieder anrufen, ihn an-
locken durch die Behausung
in unserer Mitte. [19]

 

Gebet I

Aber auch aufgehen
kann uns der Gott wider, aufstehen
am Rand, aus dem Zwielicht,
wo er unterging, einmal,
einging in seine Ewigkeit.
Warte [20]

Während der erste lyrische Kurztext für aktiven Dom- und Kirchenbau (wie die berühmte Berufungserzählung des Franz von Assisi: „Baue meine Kirche auf!“) plädiert, um für unbehauste Menschen einen Raum zu schaffen, an dem „der Gott“ angerufen werden kann, eröffnet das zweite Gedicht eine ganz andere Sichtweise angesichts des Abbruchs überkommener Religionstradition: „am Rand, aus dem Zwielicht“ könne Gott „wieder aufstehen“ – nicht wir Menschen müssen hier etwas tun, vielmehr wird uns empfohlen aufmerksam zu werden für „den Gott“ an den Rändern, wo ja auch Jesus Gott und die Menschen aufsuchte und dadurch zu einer zwielichtigen Gestalt wurde: zum Fresser und Säufer, Freund der Zöllner und Dirnen, der Ehebrecherinnen und psychisch Verwahrlosten, der religiösen Randständigen, Anders- und Ungläubigen – ausdrücklich werden wir aufgefordert zu „warten“, ja, zu „suchen“, wozu der unmittelbar folgende Text mit eindringlicher Metaphorik einlädt:

tief hinab
wo das urgestein wurzelt
geht meine suche nach gott [21]

Weitere Gebetsgedichte umkreisen diese Suche nach Gott und Sprache, die letztere gilt ausdrücklich als Auferstehen:

Noch einmal die Stimme erheben
höher, weit
über uns hinaus,
solange der Atem noch trägt. [22]
Den Grabfelsen weg-
wälzen von den
Lippen und auf-
erstehen zur Sprache. [23]

Suchbewegungen ins Offene sind auch die Gedichte der Schweizer Dichterin Erika Burkart (1922-2010). In ihrer lyrisch programmatischen „Entgegnung“ distanziert sie sich unmissverständlich von Erbauungsliteratur wie von religiöser Dichtung: „Ich bin kein geistlicher Beistand.“ Der negativ-apophatischen Theologie nahe stehend wagt sie konfessorisch zu werden und das Göttliche an den Grenzen menschlicher Logik und Anschauung durchzubuchstabieren: „Ich komme nicht aus / ohne Hintergrund-Gott“. Nur paradox zu umschreiben, ist er stets beides: Fern und Nah, Weltbaumeister und Vernichter: „Errichter von Himmeln, / himmlischen Leeren, / Schöpfer von Zeit, / Räuber, Zerstörer von Zeitlichkeit. / Kein Trost, dieser Gott, / weniger als ein Bild; / in Abwesenheit eine All-Präsenz / die Leben zulässt, Liebe, / deren Zeitlosigkeit im Schmerz.“ Ausdrücklich grenzt sich Erika Burkart vom gott-losen Menschen ab: „jeder hat, was mehr ist als er, / uneingestanden bezogen / auf eine begrenzte Absenz.“ [24]

Eine ungeschminkte Bestandsaufnahme der condition humaine verdichtet die grosse Lyrikerin in einem ihrer letzten Texte aus dem Nachlassband Nachtschicht (2011):

Unsere Existenz zwischen Sternen,
deren Fernen Schönheit vortäuschen;
in unüberbrückbaren Leeren
weltalte Scheinkörper, Bälle aus Gas und Gift,
steinere Totenmonde
im Schleier von Reflexen,
zaubrischem Truglicht,
des Herzschlag und Menses
der Frauen, Flut und Ebbe
der Meere bestimmt.
Ausgesetzt in die Felder der Schwerkraft
sind wir eines kosmischen Physikers Kreaturen;
ruhelos in der Sehnsucht
nach der dunklen Energie,
existieren wir auf Abruf
kraft des eingeborenen Traums
von einem Licht,
das wir nicht ertragen,
das wir in uns tragen,
das uns, die Unerträglichen,
trägt. [25]

Mit zum Berührendsten, ja, Aufwühlendsten ihrer späten Aufzeichnungen gehört Burkarts insistierendes Gottumkreisen, das ebenso Distanz gegenüber harmlos-harmonisierenden Vorstellungen der Gläubigen wie säkularistischen Borniertheiten der Glaubenslosen wahrt: „Der Agnostiker ist der moderne homo religiosus, der auf das anthropomorphe Gottesbild verzichtet. Gott wächst mit dem Kosmos, entwächst jeder menschlichen Vorstellungskraft. Seine Unerkenntlichkeit treibt uns um. Alleingelassen, irren wir, die göttliche Spur suchend, in die Kreuz und Quer.“ [26]

Die moderne Wissenschaft hat den Blick des Menschen in galaktisch unermessliche Weiten des Universums geweitet, aber den Menschen im entzauberten Kosmos auch heimatlos gemacht: „Gott eine astronomische Größe. Völlig inkommensurabel und nicht zu fassen für uns. Zu ihm kann man nicht beten, ihn nicht um Trost ersuchen in der Wüste unserer Existenz, auch wenn es eine relativ erträgliche ist. Geist und Seele sehnen sich nach etwas gänzlich Anderem – partikelweise erhalten in der Kunst, den Künsten als eine Restsubstanz von etwas sehr Wunderbarem, eben Göttlichem. Ob diese Welt-Gottheit uns zur Kenntnis nimmt? Manchmal denke ich: Er ist die Schöpfung, herrlich und verrückt, ein Dämon […] Zu viel habe ich gesehen“, weist sie archaisch-mythologische Vorstellungen von Gott und seinem Wirken zurück, „um noch irgendeine Form des Vertrauens in eine göttliche Führung oder gar persönlichen Beistand zu erhoffen aus einer metaphysischen Welt.“ [27]

In dem noch kurz vor ihrem Tod zusammengestellten Gedichtband Das späte Erkennen der Zeichen (2010) wirft die 88-Jährige denn auch die hellsichtig-kritische Frage auf:

Was denken, fühlen
fromme Atheisten,
wenn sie ein Gebet ohne Worte im Kopf,
Zuspruch suchen im Wissen,
dass des astronomischen Gottes kein Ende
und Unermessliches
nicht ansprechbar ist? [28]

Neue Aufmerksamkeit für Gott

Seit vielen Jahren einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker, legte Uwe Kolbe (*1957), der in einem gottlosen Haushalt in Ostberlin aufwuchs, 2017 überraschend einen Gedichtband mit dem lapidaren Titel Psalmen vor, der die Urgattung biblischer Poesie aktualisiert. „Hier sind meine Psalmen, Lieder nach alter Art, Gebete […] das sind Gedichte, Fragen und auch manches Flehen“, meldet er die Wiederaufnahme einer großen Tradition und zugleich ihre Zurücknahme: „Unter meinen sind keine von der sicheren Seite gesprochen […] Dies sind Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?“ [29]

„Im Naturerlebnis mache ich die Erfahrung, nicht des Christengottes, sondern von etwas Größerem, einer Transzendenz. Da sehe ich, dass ich ganz klein in einer sehr großen Welt stehe. Diese Ahnung von etwas Größerem ist kulturstiftend. Unser Sprechen, das mit Poesie zu tun hat, kommt da her. Dass wir nicht verstehen, was da ist. Wir sprechen, um den Versuch zu machen, es zu verstehen.“ [30]

„Der selbstverständlich in der Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzte Atheismus ödet mich an. Er schleppt die Fahne der Aufklärung mit sich, aber die ist vom leeren Herumzeigen leider entfärbt.»[31] Einen (selbst-) kritisch-postsäkularen Blick auf den borniert-banalen Säkularismus wirft Kolbes „Psalm nach der tonlosen Zeit“:

Das Lied ohne Gott ist tonlos,
es langweilt sich bei sich selbst,
und seine Sänger schlafen ein.
Dem Lied ohne Gott fehlt Gott,
dass geistlose hat keinen Geist.
Mein eigenes Schwadronieren,
gottloses Wort, das ich sagte,
betrog all jene, die hörten.
Ich fand mich wohl toll
in meiner schwarzen Weste,
den Fleck meiner Sehnsucht,
von der mein Gesang ging,
ein sprachloses Sprechen,
ein Fragen, von Anfang an hohl.
Das Lied ohne dich ist tonlos,
Herr, dies ist mein Psalm. [32]

 

«Der 90. Psalm, ein Tanz Moses» bringt die Hinfälligkeit und Endlichkeit menschlichen Lebens angesichts der Ewigkeit Gottes ganz neu zum Klingen:

Über und über besudelt von Zeit,
bin ich zu altern, zu sterben bereit
bei dir, mit dir im Tanz, Gegenwart,
spür deine führend Hand hart. [33]

Anstelle der 17 Doppelverse des biblischen Originals, dort als «ein Gebet von Mose» charakterisiert, benötigt Uwe Kolbe nur vier Zeilen. Statt der vielen uns aus Luthers Bibelübersetzung wohlvertrauten Wendungen («Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen») ist Kolbes Psalm aufs Wesentliche verknappt. Eingedampft auf wenige dichte Kernaussagen, die durch innovative Bildfindungen überraschen, die nicht einfach die Mollton-Stimmung der Vorlage verlängern: «über und über besudelt von Zeit» ist eine kernig-abgründige Lebensmetapher, die Endlichkeit und Vergänglichkeit bejaht: «bin ich zu altern, zu sterben bereit». Das alttestamentliche Schöpfungslob wird produktiv im Bild eines fortwährend resonanten Lebensreigens «mit dir im Tanz», in dem Gottes Güte und Freundlichkeit je neu «Gegenwart» wird. Kontrastiv schärft die Schlusszeile, dem weisheitlichen Realismus der Bibel nahe, die dunkle-ambivalente Seite der Angewiesenheit des Menschen auf Gottes Fürsorge ein: «spür deine führende Hand hart».

„Worte reichen hinter die Dinge, sie schaffen Verbindungen zum Unerhörten und Unsichtbaren“, ist der Schweizer Haiku-Meister Klaus Merz (*1945) überzeugt. Mit hingetuschten Nachdenklichkeiten will er „eine Ahnung vom Ganzen“ vermitteln, „ein bisschen metaphysische Geborgenheit“ [34]. So kann in dem Gedicht „Forst“ eine scheinbar banale Pfütze auf dem Waldweg zum Spiegel Gottes werden:

1
In der Radspur des Försters
sammelt sich Himmel: Legt
(es) Gott auf uns an?

2
Für uns ist
Gott Luft. Wir
atmen ihn ein. [35]

Der zweite Blick auf eine Gottesvergleichgültigung signalisierende Redensart – „Gott ist für mich Luft, er existiert nicht“, könnten Atheisten achselzuckend sagen – deckt eine überraschend andere Lesart auf: wie die eingeatmete Luft ist „für uns“ Gottes Allgegenwart nicht greifbar und dennoch mit jedem Atemzug spürbar – wie Gen 2,7 erzählt: „Da nahm Gott Erde (adama), formte daraus den Menschen (adam) und blies ihm den Atem des Lebens in die Nase. So wurde der Mensch lebendig.“ Einen spirituell bemerkenswerten Perspektivenwechsel markiert „Letzter Wunsch“:

Lieb wär' ihm ein Gott,
um zu danken, gestand
uns der Alte.

Mit Schmerz und Klage
komme er eher
allein zurecht. [36]

Auch nach Abbruch der überkommenen Gebetstradition gibt es offensichtlich Erfahrungen von Dankbarkeit, die zur Sprache gebracht werden wollen, um den Tunnelblick einengender Selbstbezüglichkeit zu transzendieren.

Im Hallraum der Mystik

Vom nie verlöschenden Öllicht her, das in katholischen Kirchen die immerwährende Gottesgegenwart symbolisiert, aktualisiert „Ewiges Licht“ Meister Eckharts kühnen Gedanken, dass wahre Frömmigkeit auch noch ‚Gottes ledig‘ werden müsse:

Von Gott ablassen.
Und seinen Funken
neu zünden, in uns. [37]

Der Mensch soll von allem ‚ledig‘ sein, ‚leer werden‘, erst wo man Gott lässt, da bleibt Gott, strich Meister Eckhart gegen das Haben- und Besitzen-Wollen heraus – gegen alle Bemühungen, Frömmigkeit zu einem Mittel des religiösen Erwerbs, ja, Gott handhabbar zu machen. Das Höchste und Äußerste, was der Mensch lassen soll, ist daher, dass er Gott Gott sein und wirken lasse [38]. Gerade so vermag Gott inwendig im Menschen je neu gegenwärtig zu werden, seinen Funken neu zu „zünden in uns“.

„Du musst deinen Glauben leer halten, frei von festgefügten Bildern, Begriffen, von deutenden Umschreibungen. Er muss leer sein, unbrauchbar, zu nichts zu verwenden. Nur so bleibt alles offen, nur so kann der Gott einströmen“ [39], spitzt Christian Lehnert diesen Gedanken zu. Das berührt sich eng mit dem schlesischen Mystiker und Dichter Johannes Scheffler, der sich Angelus Silesius nannte. Lehnert ist er wichtig als „Nachhall der erfahrenen göttlichen Fremde“, ja, der „verstörenden Transzendenz“, wie einer der mystisch-paradoxen Sinnsprüche des Cherubinischen Wandersmann verdeutlicht: „Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier:/Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.“ [40]

Dem Görlitzer Mystiker Jakob Böhme verdankt Lehnert eine Präferenz für das Akustisch-Pneumatische: „Betrachtet man die Dinge und Lebewesen nicht allein als stoffliche Erscheinungen, als Objekte der Anschauung, sondern als Stimmen, die etwas zu sagen haben, als Wesenheiten, zu denen ich in Beziehung trete auf vielen Ebenen, auch seelisch – dann erweist sich die Sprache und die Namen, die wir verwenden, als brüchig, weil sie auf das Unaussprechliche, auf eine Fülle von Sinn trifft, die sie nicht sagen kann. Dann werden Atem und Klang wichtig – und jene geistigen Bezirke (Atem, ruah, pneuma), die vor der Sprache liegen.“ [41] Sie begegnen immer wieder in Lehnerts mystischem Gottumkreisen:

Puls
Der GOtt wird nicht gedacht, im Atem wird ER wahr.
So hebt im Dunkel an, des Nachts, das neue Jahr.

Immerwährendes Vorher
Vor allem Anfang, Hauch, so wirkt der GOtt die Stille,
das Ungeschehene, den willenlosen Willen.

Atemgeräusch
Denn alle wissen GOtt, die ihren Atem wissen,
die Kühle und den Sog, die Fülle, das Vermissen.

Grenzen der Syntax
Der GOtt - Subjekt im Satz? Zuviel ward ER gesetzt,
zuviel gehegt, gehertzt. Das Schweigen birgt IHn jetzt.

Es gibt IHn nicht
Es gibt nicht "GOtt", es spricht ein unentwegtes Geben,
in dem ER selber wird, in Dasein und Entschweben. [42]

 

Zu den frühesten Zeugnissen des alten Israel, in denen Engel auftreten, gehört im Abraham-Erzählzyklus die Flucht der schwangeren Hagar in die Wüste (Gen 16). An einem für sie unerreichbar weit entfernt liegenden Ort an der Grenze zu Ägypten, führt Christian Lehnert in einer eindringlichen Exegese seines jüngsten Prosabuchs Von den Engeln und Mächten (2020) aus, tritt ein Engel zur geflohenen Hagar.

„Das geschah an einer Quelle“, die im Hebräischen kaum zufällig mit demselben Wort wie ‚Auge‘ bezeichnet werde: „Das klare Wasser ‚sah‘ die Sklavin. Das sprudelnde Auge, ein Born, schaute auf. Ein Spiegelbild hätte der rastenden Hagar erscheinen können. Ist das bereits ein Indiz? Hatte der Engel, ein Quellbewohner womöglich, ein Wassergeist, Hagars Gesicht? Die Sklavin nannte jedenfalls die Erscheinung am Ende der Geschichte: ‚ein Gott, der mich sieht‘. Der Engel stellte sich Hagar nicht vor und wurde doch sofort als solcher erkannt – eine Stimme, welche vor dem Goldgrund einer utopischen Oase die zwei wichtigsten Fragen an einen Menschen stellte: ‚Wo kommst du her und wo willst du hin?‘ Der Engel scheint nur aus diesen zwei Fragen bestanden zu haben. Er ‚fand sie‘ und sprach, so wirkt es, wie aus dem Innern Hagars – und doch war er ein Fremder […] So wird nicht gefragt, um eine Antwort zu erhalten, so wird in die Fraglichkeit gestoßen […] Aus der Quelle war mit zwei Lidschlägen die haltlose Öffnung der Transzendenz gestiegen […] In der Schwebe über dem Wasser erkannte sich darin die verängstigte Frau auf der Flucht. ‚Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der Herr hat dein Elend erhört. / Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen‘“, deutet Lehnert die Engelsworte aus. „Hagar erkannte sich an der Quelle als ein Wesen, das der Erscheinung des Gottes als ‚Ich werde sein, der ich sein werde‘ gleicht. Sie hörte von einer Zukunft, die sich nicht nur aus der Vergangenheit herleitete. Ein Engel hatte es ihr gesagt. Und natürlich nannte sie die Quelle: ‚Brunnen des Lebendigen, der mich sieht.‘“ [43]

Lehnerts Fazit? „Wo der Gott mit dem Namen ‚Ich werde sein, der ich sein werde‘ in die menschliche Vorstellung eintritt, werden alle Zeitläufe und Zusammenhänge zu reinen Gnadenakten. Alles ist offen, wo mit diesem Gott gerechnet wird. Geschichte? Nur der Gott im Augenblick seines Geschehens kann sie erzählen, und lesen kann sie nur, wer darin selbst erzählt wird und dieser Erzählung als einer ganz anderen Geschichte, einer ‚Heilsgeschichte‘ glaubt. Sehen kann nur, wer angesehen ist. Verstehen kann nur, wer die Reflexion verläßt.“ [44]


[1] Jürg Amann, Lebenslang Vogelzug. Gedichte, Innsbruck/Wien 42017, 17. Zur Einordnung Christoph Gellner, „…nach oben offen“. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile, Ostfildern 2013.

[2] Jürg Amann: Die Reise zum Horizont. Novelle, Innsbruck/Wien 2010, 56.  

[3] Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019, bes. 435–453 („Die Verheissung der Religion“), Zitat 435; ders., Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 2019. Zur theologischen Rezeption Simon Peng-Keller (Hrsg.), Gebet als Resonanzereignis. Annäherungen im Horizont von Spiritual Care, Göttingen 2017 (darin mein Beitrag: Gebetszeugnisse in zeitgenössischen Krankheits- und Sterbenarrativen. Theologisch-literarische Erkundungen, 229–250).

[4] Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Frankfurt a. M. 22020, 639 (Hervorh. im Original).

[5] Robert Buch/Daniel Weidner (Hrsg.), Blumenberg lesen. Ein Glossar, Berlin 2014, 198f.

[6] Martin Rohrer, Religion, Moderne, Resonanz. Anstösse aus Hartmut Rosas Soziologie der Weltbeziehung“, abrufbar unter: https://www.euangel.de/ausgabe-2-2018/resonanz/religion-moderne-resonanz/

[7] Georg Langenhorst, „In welchem Wort wird unser Heimweh wohnen?“ Religiöse Motive in der neueren Literatur, Freiburg i. Br. 2020, 162–165, Zitat 162; ders., „Ich gönne mir das Wort Gott“. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur, Freiburg 22014, 348–350.

[8] Felicitas Hoppe, Gefunden zu werden, ist ein Glück. Wir wollen erkannt werden, wie wir sind. Nicht als die, welche die anderen in uns sehen, in: NZZ vom 9. September 2020. 

[9] Peter Sloterdijk, Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Berlin 2020, 54, das folgende Zitate 55. Vgl. Christoph Gellner, Theopoetische Aufklärung. Peter Sloterdijk über die Dichtungsnatur der Religionen, in: Herder Korrespondenz 75 (2021) H. 2, 52.

[10] Sloterdijk, Himmel, 141.

[11] Ebd., 317.

[12] „Religion ist nie cool.“ In: DIE ZEIT vom 8. Februar 2007.

[13] Peter Sloterdijk, Nach Gott. Berlin 2017, 24.

[14] Sloterdijk, Himmel, 76.

[15] Burkard Reinartz, Dem Nachtwind den Namen Gottes geben. Transzendenz in der modernen Poesie, WDR-Lebenszeichen vom 7. August 2015. Vgl. das Lehnertporträt in: Christoph Gellner, Die Bibel ins Heute schreiben. Erkundungen in der Gegenwartsliteratur, Stuttgart 2019, 204–218.

[16] Christian Lehnert, Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten, Berlin 2020, 142.

[17] Gebete der Menschheit. Ausgewählt, erläutert und mit einem Nachwort von Christian Lehnert, Berlin 2019, 128.  

[18] Vgl. Daniel Kosch, Dome bauen – warten – Gott suchen, abrufbar unter: www.feinschwarz.net/dome-bauen-warten-gott-suchen/

[19] Amann, Lebenslang Vogelzug, 18.

[20] Ebd., 19.

[21] Ebd., 20.

[22] Ebd., 23.

[23] Ebd., 24.

[24] Erika Burkart, Ortlose Nähe. Gedichte, Zürich 2005, 29f. Eingehend Christoph Gellner, „Eine Welt ohne Geheimnis ist eine leere Nuss.“ Gott in den späten Aufzeichnungen und Gedichten von Erika Burkart, in: Geist und Leben 86 (2013) 344–350.

[25] Erika Burkart, Nachtschicht/Ernst Halter: Schattenzone. Gedichte, Frankfurt a. M. 2011, 62.

[26] Erika Burkart, Am Fenster, wo die Nacht einbricht. Aufzeichnungen, Zürich 2013, 291.

[27] Ebd., 296.

[28] Erika Burkart, Das späte Erkennen der Zeichen. Gedichte, Frankfurt a. M. 2010, 33.

[29] Uwe Kolbe, Psalmen. Frankfurt a. M. 2017, 7f. Eingehend Gellner, Die Bibel ins Heute schreiben, 194–204.

[30] Tomas Gärtner, Interview mit Uwe Kolbe über seinen neuen Gedichtband «Psalmen», Dresdner Neueste Nachrichten vom 12. September 2017.

[31] Michel, Sascha, «bei dir, mit dir im Tanz, Gegenwart». Interview mit Uwe Kolbe, abrufbar unter https://www.hundertvierzehn.de/artikel/»bei-dir-mit-dir-im-tanz-gegenwart»_2162.html

[32] Kolbe, Psalmen, 12.

[33] Ebd., 53.

[34] Christoph Gellner, Schweizer Haiku-Meister. Hommage auf Klaus Merz, in: Stimmen der Zeit 233 (2015) 699-702.

[35] Klaus Merz, Außer Rufweite. Lyrik 1992-2013, Innsbruck 2015, 282.   

[36] Ebd., 337.

[37] Ebd., 372.

[38] Nur ein Hinweis ist hier möglich auf Adolf Muschg, der Eckharts Gedanken der Wirkeinheit mit Gott und seine Theismuskritik („Gott über Gott“) mit dem a-theistischen Buddhismus eines Zen-Philosophen wie Hisamatsu Shin‘ichi verbindet, vgl. Christoph Gellner: Westöstlicher Brückenschlag. Literatur, Religion und Lebenskunst bei Adolf Muschg, Zürich 2010, bes. 81–99. Als Kenner Meister Eckharts und des Zen-Buddhismus verdeutlicht der Zürcher Mystikforscher Alois Maria Haas: „Christlich ist Gott letztlich das Nichts aller ihn einengenden Bezeichnungen und Namen; ihm kann sich der Mensch nur nähern, wenn er alle Konzepte seiner Gottesgelehrsamkeit fallen lässt.“ (Alois Maria Haas: Mystik im Kontext. München 2004, 481).

[39] Christian Lehnert, Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Berlin 2017, 118, das folgende Zitat 188f.

[40] Ebd., 189, zit. Cherubinischer Wandersmann, I, 25.

[41] Jan-Heiner Tück, „Feuerschlag des Himmels“. Gespräche im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg i. Br. 2018, 118.   

[42] Christian Lehnert, Cherubinischer Staub. Gedichte, Berlin 2018, 17.36.49.42.27.

[43] Lehnert: Ins Innere hinaus, 47f. Vgl. meinen Beitrag auf https://www.feinschwarz.net/nachdenken-ueber-engel/

[44] Ebd., 79.

Der Beitrag erschien in: Matthias Werner/Eva Willebrand/Michael Winklmann (Hg.): Angesehen. Interdisziplinäre Perspektiven auf den Blick Gottes, Herder: Freiburg i. Br. 2022, 73-87.

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